Wie leben Studenten in Deutschland einige Jahre nach der Hochschulreform? Wie hat sich das Studium verändert? Einige Leute aus verschiedenen Bereichen äußern sich darüber.
Mariana Racheva,29,Studentendorf Schlachtensee
Es gibt mehr Mieterwechsel als früher - oft suchen die Studenten nur für ein,zwei Semester ein Zimmer. Bei uns können sie mit einem kleinen Koffer anreisen und sich gleich auf das Studium konzentrieren.Die Infrastruktur im Dorf hilft ihnen beim Zeitmanagement, etwa durch den Internetanschluss ab dem ersten Tag und preiswerte Waschsalons. Die Studenten feiern heute nicht unbedingt weniger als früher, aber anders. Früher machten vor allem die politischen Aktivitäten das Studentendorf aus. Man traf sich, um zu diskutieren. So etwas findet heute weniger statt. Eher die klassischen WG-Partys oder mal zusammen grillen auf dem Dorfplatz. Ich denke, das ist schon ein gesellschaftlicher Wandel. Schon möglich, dass das damit zusammenhängt, dass im neuen Uni-System jeder Student schnell sein Programm durchziehen muss.
Christian Meyer,31, studiert im 20. Semester Soziologie auf Diplom, hat die Diplomarbeit abgegeben, seit 2007 im AStA der TU engagiert
Man darf sich da keine Illusionen machen: Die Unis waren nur in geschichtlichen Ausnahmefällen der Hort der Freiheit und des kritischen Denkens, und da müsste man erst mal wieder hinkommen. Heutzutage haben die Studenten weniger Zeit, mehr Stress und Angst vor Lücken im Lebenslauf. Man kann das auch gar nicht den einzelnen Studenten anlasten, es ist eher der gesellschaftliche Druck,den viele schon internationalisiert haben. Da fragt man sich schon: Was wollen die Universitäten? Wollen sie Leute, die nach Abschluss des Studiums selbstständig sind, kritisch denken und wissenschaftlich arbeiten können? Oder sollen da Leute rauskommen, die gut qualifiziert sind und die nie was anderes erlebt haben als Druck von oben? Da kommen sicher gute Arbeitskräfte heraus, die nicht querschießen, sich gut ausbeuten lassen, ein hohes Fluktuationsniveau haben und unter Druck arbeiten können. Aber es ist die Frage, ob wir eine Gesellschaft wollen,in der Unis ausschlieβlich diesen Zweck verfolgen.
Maria Dengel, 38, Jobvermittlung Heinzelmännchen
Heute war ein Student da, der nur sonntags Zeit zum Arbeiten hat. Schwierig, da einen passenden Job zu finden. Früher konnten die Studenten ihre Vorlesungen so belegen, dass genug Raum für den Nebenjob da war. Sie entschieden, ob sie das Studium in vier oder fünf Jahren beendeten. Jetzt kenne ich einige, die zehn oder weniger Stunden die Woche zum Arbeiten haben. Das ist eine schwierige Situation, weil sie auf den Verdienst angewiesen sind. Mit kurzfristigen Aufträgen verdienen sie am schnellsten - als Umzugshelfer, Gartenhelfer oder Aufbauhelfer bei Messen. Auch als Dolmetscher oder Notfall-IT-Helfer. Für drei bis vier Stunden gibt es einen Lohn von 36 Euro. Einmal wurde ein Ziegencowboy gesucht. Der Student half, die Ziegen zum Scheren einzufangen.
Günter M. Ziegler, 50, seit 1995 Mathematik-Professor in Berlin (erst an der TU, nun FU)
Ich habe den Eindruck, dass die 17-Jährigen von heute teilweise zielstrebiger sind als die 19-Jährigen vor 20 Jahren. Das kann man natürlich positiv und negativ sehen. Es ist gut, wenn es bedeutet,dass die Studierenden heutzutage flotter durchs Studium kommen und trotzdem mit Erfolg und Spaβ studieren. Wenn sie aber beispielsweise ihren Wunschstudiengang verwerfen, nur weil irgendein Studienberater ihnen gesagt hat, dass sie damit später keinen Job finden, dann ist das sehr schlecht. Die Studierenden sollten sich nicht vom System terrorisieren lassen. Und es liegt schon ein großer Wert darin, nach rechts und nach links zu schauen. Das machen glücklicherweise auch heute noch viele. Ein Mathematikstudent konnte letztens nicht in meine Sprechstunde kommen, weil er parallel einen Japanisch-Kurs hatte - da verschiebe ich gern den Termin!